Bleiburg als "kroatischer Holocaust"

Junge Neofaschisten posieren vor dem Gedenkstein am Loibacher Feld/Libuško polje. (Bleiburg/Pliberk 2008)

Will man die politische Entwicklung Kroatiens seit den ersten demokratischen Wahlen 1990 nachvollziehen, muss man das am stärksten umkämpfte Gebiet vergangenheitspolitischer Debatten untersuchen: den Umgang mit dem »Unabhängigen Staat Kroatien« (Nezavisna Država Hrvatska – NDH). Seit dem Wahlsieg von Präsident Franjo Tuđman und seiner „Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft“ (Hrvatska Demokratska Zajednice – HDZ) 1990 entflammte in Kroatien im Frühjahr jeden Jahres der »Kampf um die Erinnerung«: anlässlich der Gedenkveranstaltungen im ehemaligen Ustaša-KZ Jasenovac, das Tuđman in eine »nationale Gedenkstätte aller kroatischen Opfer« umwidmen wollte, und in Bleiburg, das als »größte kroatische Tragödie aller Zeiten« oder als »kroatischer Holocaust« gedeutet wurde. Zentral hierfür war die Idee der »nationalen Versöhnung« (pomirba) aller KroatInnen, das Kernelement der Tuđmanschen Vergangenheitspolitik. Im Folgenden wird die Bedeutung Bleiburgs – auch bzw. vor allem in Konkurrenz zu Jasenovac – für die Neuerfindung der kroatischen Geschichte nach 1990 und die Nationswerdung anhand des Wandels des öffentlichen Diskurses in den 1990er Jahren dargestellt.[1] Die Entwicklung seit Tuđmans Tod 1999 bis heute wird zum Schluss bloß kursorisch umrissen.

Die „nationale Versöhnung“ der Tuđman-Ära 1990-1999

In den Jahren vor dem Zusammenbruch Jugoslawiens findet sich in der staatlichen kroatischen Zeitung Vjesnik ein einziger indirekter Hinweis auf Bleiburg in der Rede des Präsidiumspräsidenten Kroatiens Jakša Petrić. Bei einer Gedenkveranstaltung in Jasenovac führt er aus, am 8. Mai 1945 hätte »der deutsche Staat kapituliert. Aber nicht auf unserem Boden: Hier blieben noch die deutsche Armee, Ustaša-, Četnik- und andere Banden, die ihnen halfen. Erst nach sechs Tagen blutiger Schlachten wurde der organisierte Widerstand der Feinde und Quislinge endlich gebrochen: Bei uns blieben noch eine kurze Zeit lang einige Grüppchen Ustaša-Križari und ihre Helfer, um sich endgültig hinter Gittern ihrer Illusionen und Irrtümer zu vergewissern, und um sich vor Volksgerichten für die Verbrechen, die sie begangen haben, zu verantworten – auch jener, die hier in Jasenovac begangen wurden.« (Vjesnik, 22.4.1985) Im offiziellen Erinnern stand vor 1990 also außer Zweifel, dass es nach dem 8. Mai ausschließlich darum ging, organisierten Widerstand von Banden zu brechen, die zum Teil auch für die Verbrechen in Jasenovac verantwortlich waren, nicht etwa um flüchtende Armee-Einheiten und ZivilistInnen, an denen ohne Gerichtsverfahren Rache geübt wurde. Das Verschwiegene, Ausgeblendete ist hierbei die Erinnerung der Hinterbliebenen an die Opfer von Bleiburg, die keinen Platz im vergangenheitspolitischen Diskurs innerhalb Jugoslawiens hatte. Sie wurde nur im Privaten und im Exil weitergegeben und erlangte nach 1990 umso größere Wirkmächtigkeit.

Bemerkenswerterweise berichtet die staatliche Zeitung Vjesnik bereits wenige Wochen nach Tuđmans Wahlsieg 1990 erstmals über die Gedenkveranstaltung in Bleiburg, während etwa die oppositionelle Tageszeitung Novi list erst 1992 dieses Thema aufgreift. Auch die Schulbücher schwenken erwartungsgemäß rasch auf das neue nationale Narrativ ein: In dem 1992 erschienenen und von Ivo Perić verfassten Geschichtsbuch für die achte Schulstufe wird die NDH auf sieben Seiten behandelt. Dabei wird zwischen dem umfangreich und positiv dargestellten Staat und dem verbrecherischen Ustaša-Regime unterschieden, dem nur eine halbe Seite gewidmet ist.[2] Das KZ Jasenovac wird nur an einer Stelle ohne weitere Informationen erwähnt. Bleiburg und der »Kreuzweg« werden bei Perić hingegen ausführlich behandelt, wobei in den Auflagen von 1992–1995 die Opferzahl von 50–300.000 Umgekommenen genannt wird, die jedoch 1998 auf »einige Zehntausend Kroaten« reduziert wird.[3]

Die Parallelisierung von Jasenovac und Bleiburg, das als »kroatischer Holocaust« bezeichnet wurde, war ein Kernelement der Vergangenheitspolitik der Tuđman-Ära. Tuđmans zentrales vergangenheitspolitisches Programm war die Idee einer »nationalen Versöhnung« aller KroatInnen – was auch die Verankerung des Antifaschismus in der Verfassung einerseits und den positiven Bezug auf die NDH andererseits erklärt. In deren Kern stand die Behauptung, dass Ustaša und Partisanen beide auf ihre jeweilige Art für die kroatische Sache gekämpft hätten, diese Trennung nun aber durch die kroatische Unabhängigkeit überwunden sei. Damit ging ferner der Plan einher, die KZ-Gedenkstätte Jasenovac in eine »nationale Versöhnungsstätte« umzuwidmen. Bereits im Juli 1990 teilte Tuđman der Berliner Tageszeitung mit, in Kroatien hätten Kroaten unter unterschiedlichen Fahnen für die Freiheit gekämpft. Sogar ein General Franco hätte das gewusst und vor 30 Jahren gemeinsam die Opfer des Faschismus und des Kommunismus beerdigt. Nur auf Grundlage einer derartigen Versöhnung könne es eine demokratische Gesellschaft ohne verfeindete Seiten geben. Man solle ein Denkmal für alle Kriegsopfer bauen und endlich verstehen, dass das alles nur die Folgen einer geschichtlichen Situation waren.[4] 1996 wurde der Umwidmungsplan in Tuđmans Bericht über die Lage des kroatischen Staates und der Nation im Jahr 1995 konkretisiert: »Aus historischen, aber auch aktuellen politischen Gründen soll die Gedenkstätte Jasenovac in eine Gedenkstätte für kroatische Kriegsopfer umgestaltet werden. Dort soll neben einem Museum und Denkmal für alle Opfer des Faschismus auch aller Opfer des Kommunismus (durch Umbettung der sterblichen Überreste und Knochen aus den entdeckten Gruben), sowie aller Opfer des Heimatländischen Krieges gedacht werden, und zwar so, dass für jeden Gefallenen für die Freiheit Kroatiens ein Gedenkstein (oder Kreuz) mit seinem Namen aufgestellt wird.«[5] Dieser Plan zog heftige Kritik der jüdischen Gemeinde und der wenigen unabhängigen Medien im Lande sowie ausländischer BeobachterInnen nach sich, allen voran des Direktors des United States Holocaust Memorial Museums in Washington, Dr. Walter Reich, und des amerikanischen Außen­ministers Warren Christopher.[6] Später modifizierte Tuđman den Plan, indem er die Behauptung erfand, Jasenovac sei auch nach 1945 ein Lager gewesen, in dem Rückkehrer aus Bleiburg inhaftiert gewesen seien und deren sterbliche Überreste ohnehin auf dem Areal des ehemaligen KZ begraben worden seien. Aufgrund der heftigen Kritik, vor allem jener aus den USA, wurde der Plan in Jasenovac nie realisiert.[7]

Im öffentlichen Diskurs vergleichen einige wenige die Verbrechen in Jasenovac und Bleiburg mit­einander vergleichen, um zu dem zumindest impliziten Schluss zu kommen, die Ermordung der jungen Männer in Bleiburg sei schlimmer gewesen,[8] dominant ist aber vielmehr die Gleichsetzung der beiden Verbrechen, weil »beides furchtbare Verbrechen sind, die zum Himmel schreien« und man die Opfer beider Seiten betrauern müsse, weil auch unzählige Mütter (egal auf welcher Seite) um ihre Liebsten geweint hätten.[9] Man könne »angesichts der brutalen Ermordung Unschuldiger nicht gleichgültig bleiben, egal ob in Jasenovac, auf Pag, in Jadovno [den beiden KZ aus der Frühphase der NDH, Anm.], Stara Gradiška oder in Bleiburg«.[10] Diese Position geht von der Unschuld aller Opfer aus. Dieser rhetorischen Gleichsetzung steht auf realpolitischer Ebene ein deutlicher Fokus auf Bleiburg und – von der Umwidmungsdebatte abgesehen – eine Vernachlässigung von Jasenovac durch Medien, Politik und Kirche gegenüber. Bleiburg avancierte seit 1990 zusehends zum Symbol des »Leidens des kroatischen Volkes« schlechthin und die jährlichen Gedenkveranstaltungen fanden seit 1995 unter der Schirmherrschaft des Parlaments statt, wurden mitsamt der üppig zur Schau gestellten Ustaša-Symbolik live im Fernsehen übertragen und zogen weitaus mehr TeilnehmerInnen an als die Gedenkveranstaltungen in Jasenovac. Als Vorbote der 2000 erfolgten Wende in der Vergangenheitspolitik kritisiert 1999 in Vjesnik Zoran Pusić vom Helsinki-Menschenrechtskomitee erstmals die fehlende Beteiligung der katholischen Kirche bei der Gedenkveranstaltung in Jasenovac, ein Thema, das in den folgenden Jahren zunehmend aktuell wird.[11]

In der oppositionellen Tageszeitung Novi list hingegen wird ab 1996, also viel früher als in Vjesnik die Vernachlässigung von Jasenovac durch das Parlament, die Medien und die Kirche problematisiert. In einem offenen Brief des Antifaschistischen Ausschusses der Sozialdemokratischen Union (SDU) an den Parlamentspräsidenten heißt es unter Bezugnahme auf die Verpflichtung zum Antifaschismus in der Verfassung: »Herr Präsident, wann werden Sie eine Gedenkveranstaltung in Jasenovac, das in der ganzen Welt als faschistische Folter- und Hinrichtungsstätte bekannt ist, organisieren und persönlich dort sprechen, wie Sie es am 12. Mai 1996 in Bleiburg getan haben?«[12] Auch die Rolle der Medien wird von diesem Zeitpunkt an als Problem gedeutet: »In zweistündigen Live-Übertragungen sieht man, wie manche Teilnehmer der Bleiburger Gedenkveranstaltung auch heute noch an ihren Krawatten Ustaša-Anstecker und andere Ustaša-Symbole tragen. … Warum geht der Parlamentspräsident nicht zusammen mit der selben Staatsdelegation, mit dem selben Gefolge und der gleichen Aufmerksamkeit der Medien auch nach Jasenovac?«[13]

Die Gedenkveranstaltung in Bleiburg im öffentlichen Diskurs

Die Gedenkveranstaltung findet in Bleiburg jedes Jahr am Wochenende vor dem 15. Mai statt, dem Tag der dort erfolgten Kapitulation des größten Teils der NDH-Streitkräfte. Diese Gedenkveranstaltung ist seit 1995 nicht nur den Bleiburg-Opfern, sondern auch allen für Kroatien Gefallenen gewidmet, was vor allem die Toten des »Heimatländischen Krieges« der 1990er Jahre einschließt. Ab 1995 findet ferner rund um den Jahrestag eine Gedenksitzung im Parlament statt und in den 1990er Jahren werden Kränze auf dem 1994 errichteten »Altar der Heimat« in dem Zagreber Stadtteil Medvedgrad und beim Denkmal für die Bleiburger Opfer auf dem Zagreber Friedhof Mirogoj niedergelegt.
1990 wird das zu jugoslawischen Zeiten herrschende Tabu mit einem ersten Bericht von der Gedenkveranstaltung gebrochen. In dem ersten, distanzierten Bericht über die Gedenkveranstaltung ist in Vjesnik von »einigen Hundert Bürgern aus dem Exil und aus Kroatien« die Rede, während 1991 bereits von 1.100 und 1993 von mehreren Tausend BesucherInnen berichtet wird. Als Redner wird 1990 der Priester Tomislav Duka erwähnt, »der für die HDZ tätig ist« und »etwas zwischen einer heiligen Messe und einer öffentlichen Äußerung las«[14], während 1991 betont wird, dass auch der Zagreber Bürgermeister Boris Buzančić extra aus Zagreb angereist sei.[15] 1992 ist dann bereits eine Delegation des kroatischen Parlaments in Bleiburg vertreten, angeführt von Vice Vukojević, dem Präsidenten der eindeutig geschichtsrevisionistischen Kommission für die Erfassung der Kriegs- und Nachkriegsopfer, sowie Delegationen der HDZ und der von dem Ustaša-Führer Pavelić in der Emigration gegründeten Kroatischen Befreiungsbewegung (HOP).[16] Am 50. Jahrestag spricht der Parlamentspräsident Nedjeljko Mihanović vor »zehntausenden Kroaten«.[17]
Über den Wandel lässt sich präzisieren, dass 1990 in Vjesnik noch außer Zweifel steht, dass es sich bei den Getöteten um Angehörige von NDH-Verbänden handelt und viele der Anwesenden Ustaša und Domobranen sind, von denen in Jugoslawien viele vor Gericht gestellt worden wären. 1991 wird hingegen zwar auch die Ustaša-Vergangenheit eines Anwesenden erwähnt, jedoch unkritisch, in einem ansonsten um Sympathie für die Gedenkveranstaltung heischenden »Bericht«. 1991 werden ferner die »Festanzüge, die mit Domobranen-Abzeichen und den Farben der kroatischen Fahne geschmückt waren«[18], beschrieben, ohne die Tatsache zu erwähnen, dass es sich dabei in zahlrei­chen Fällen um Uniformen der NDH-Armee handelte. Danach verschwinden aber alle historisch konkreten Bezeichnungen der Getöteten als Ustaša und weitgehend auch als Domobranen und werden durch Ausdrücke wie »Schlachtung kroatischer Kräfte« und »größte Tragödie des kroatischen Volkes« ersetzt, um die TeilnehmerInnen als »unpolitisch« und als repräsentativ für die KroatInnen darzustellen. In vielen Fällen wird die Mitarbeit in Ustaša-Organisationen als »Aktivität in Emigrantenkreisen« umschrieben.
In Vjesnik findet sich in den Artikeln rund um die Gedenkveranstaltung genau eine Zurückweisung der Verharmlosung des Ustaša-Regimes seitens eines deutschen Journalisten.[19] Ansonsten dominiert die Verharmlosung der NDH. Ein entscheidender Grund dafür ist die Tatsache, dass vor allem jene KroatInnen in den Artikeln zu Wort kommen, die Kroatien nach dem 8. Mai 1945 aus politischen Gründen verlassen haben oder als politische Gefangene Gefängnisstrafen hinter sich haben. Einer der Teilnehmer der Gedenkveranstaltung antwortet auf die 1990 noch gestellte, später aber undenkbare Frage nach »den unleugbaren Verbrechen im Krieg«: »Wir haben nur unseren Staat verteidigt. Was die Četnik getan haben, war viel schlimmer.«[20] Uneingeschränkte Bewunderung für die NDH-Verbände findet sich etwa in einem Kommentar: »Ich betone, die kroatischen bewaffneten Verbände haben keine Kapitulation unterzeichnet. Und darauf können wir stolz sein. Sieben Tage nachdem sich die deutsche Armee ergeben hat, kämpften sie noch weiter. Wir haben länger ausgehalten als jeder andere Krieg führende Staat in Europa. Geradezu bewundernswert ist die zusätzliche Information, dass in der bosnischen Posavina westlich des Flusses Bosna … kroatische Verbände bis Mitte Juni 1945 Krieg geführt haben. Dort wurde der Zweite Weltkrieg in Europa beendet!«[21] Die Verklärung der NDH findet sich also nicht nur bei RückkehrerInnen aus der Emigration, vielmehr werden hier der Stolz und die Bewunderung für die »kroatischen bewaffneten Verbände«, mit denen sich der Autor vollständig identifiziert, offen artikuliert.
Auch bei Parlamentsvertretern finden sich häufig Verteidigungen der NDH. Die Bleiburger Opfer waren laut dem Abgesandten des Parlaments, Dubravko Jelčić, »Kroaten, die fanatisch an den kroatischen Staat glaubten, nicht an eine Ideologie – rot oder schwarz … Niemand hat das Recht, so Jelčić, die kroatische Armee faschistisch zu nennen, genauso wenig, wie es sich auf der anderen Seite nur um Antifaschismus handelte, denn der Antifaschismus hört im Zusammenhang mit dem Bolschewismus auf, Antifaschismus zu sein, wovon auch die Ereignisse in Bleiburg zeugen.«[22] 1998 führt ferner der Abgesandte des Parlaments und Präsident des Gedenkausschusses, Kazimir Sviben, in Bleiburg aus, dass »das serbo-kommunistische Regime im Zweiten Weltkrieg alle von einer kollektiven kroatischen Schuld zu überzeugen versucht hat, vor allem von der Schuld der kroatischen Heimatarmee, während sie bloß, wie er betonte, dem Ruf zur Verteidigung ihrer Heimat entsprochen hatte.«[23] Von einer ambivalenten, »versöhnenden« Vergangenheitspolitik, die sowohl die NDH als auch den PartisanInnenkampf als Einsatz für die kroatische Sache sieht, kann in den Artikeln über die Bleiburger Gedenkveranstaltung also keine Rede sein.

Religiöse Überhöhung von Bleiburg und Gleichsetzung mit »den Juden«

Während 1990 in dem ersten vorsichtigen Vjesnik-Artikel noch von der »so genannten Bleiburger Tragödie« die Rede ist, betont bereits 1992 ein Mitglied der Ustaša-Organisation HOP, Bleiburg sei »bloß der Beginn des schrecklichsten Genozids in der Geschichte des kroatischen Volkes«[24] gewesen, während in einer Reportage 1993 von »einem der tragischsten Daten in der neueren Geschichte des kroatischen Volkes« bzw. der »größten Tragödie in der neueren kroatischen Geschichte«[25] die Rede ist. Damit wird das »kroatische Volk« zum wichtigsten Akteur und zugleich werden die 1945 getöteten Ustaša, Domobranen und ZivilistInnen mit diesem gleichgesetzt. Dass viele KroatInnen gegen die NDH gekämpft hatten – und zwar in diesem Fall tatsächlich im Gegensatz zu Österreich in entscheidendem Ausmaß –, wird dabei ausgeblendet.
Bei der Charakterisierung der Ereignisse ist die häufige Verwendung religiöser Begriffe besonders auffallend. Der Begriff »Kreuzweg« wird für die von Bleiburg ausgehenden Märsche vom Anfang der Berichterstattung an von den langjährigen TeilnehmerInnen der Gedenkveranstaltung aus dem Exil übernommen. So bezeichnet 1991 der Präsident des Verbandes Kroatischer Domobran, Stjepan Ibrišimović, Bleiburg als »Ort, an dem einem das Leben genommen wurde und von wo aus man auf den Kreuzweg aufbrach, ein Ort, tief eingeschnitten im Bewusstsein eines Volkes.«[26] Beispielhaft für unzählige andere Artikel ist in einem Kommentar von dem »hürdenreichsten und tödlichsten Kreuzweg des kroatischen Volkes«[27] die Rede. Die Geschichte »der Kroaten« wird mit jener Jesu gleichgesetzt, wobei der »Kreuzweg« dabei in der Berichterstattung nur selten unter Anführungszeichen gesetzt oder durch den Zusatz »so genannter« ergänzt wird. Dem jesusgleichen Leidensweg folgt die Auferstehung durch die Unabhängigwerdung Kroatiens: So spricht Parlamentspräsident Pavletić 1996 von Bleiburg als dem »Feld der Tränen und des Blutes«, auf dem 45 Jahre nach dem »ersten organisierten Beweinen« die »große kroatische Zuversicht in die Wiederauferstehung des kroatischen Staates geblieben ist.«[28]
Bleiburg wird ferner als »Pilgerstätte«[29] begriffen. 1991 bezeichnet der Zagreber Bürgermeister Bleiburg als »das größte Golgota des kroatischen Volkes«[30] und deutet damit die Ereignisse als kollektive Kreuzigung. Der Parlamentspräsident spricht bei der Gedenksitzung im Parlament 1995 von der »Bleiburger Tragödie und dem Golgota-ähnlichen Kreuzweg« bzw. einem »nationalen Golgota«.[31] Die Flucht Richtung Bleiburg wird als »großer Exodus des kroatischen Volkes«[32] bezeichnet. Eine Leserbriefschreiberin, die selbst den »Kreuzweg« hinter sich habe, schildert die Situation an der österreichischen Grenze: »Es war ein Volk, das auf den Aufbruch in das Gelobte Land wartete, aus dem es ein Messias in die Heimat Kroatien zurückbringen würde.«[33] Tuđman scheint hier als Messias gedeutet zu werden.
Außer den religiösen Kollektivsymbolen werden auch Begriffe verwendet, die eine Gleichsetzung mit dem Schicksal von Jüdinnen und Juden anstreben, wie »Kolonne des Todes«[34] Bei der ersten Bleiburg-Gedenkveranstaltung in Sarajevo ist explizit von »Todesmärschen«[35] die Rede – eine klare Anspielung auf die Märsche aus den KZ Richtung Westen in der Endphase des NS-Regimes, da sich für den muslimischen Kontext die christliche Symbolik weniger eignet. Je länger das Gedenken rund um den 50. Jahrestag 1995 andauerte, umso radikaler wurde diese Gleichsetzung. Im Parlament spricht der Präsident des Hohen Hauses schließlich unter Anwesenheit von UN-Vertretern vom »Holocaust kroatischer Märtyrer, von denen die meisten ihr Leben für das Ideal der kroatischen Staatlichkeit geopfert haben« und vom »politischen Mord und einer Massenliquidation des kroatischen Volkes«.[36] 1996 wird in einer Reportage ein Domobranen-Offizier zitiert, den bei seinem Besuch das Bleiburger Feld an ein KZ erinnert: »Oben auf dem Feld steht, wie in einem Konzentrationslager der Wachturm, ein Jäger-Hochsitz.«[37] Am 53. Jahrestag trägt der Bericht von der Gedenkveranstaltung den Titel »Erinnerung aus der Kolonne des Todes«. Darin schildert ein »Überlebender« die schlechte Ernährung und die Tötungen der Zurückblei­benden: »Mit einem Wort: Alles diente der Vernichtung.«[38]

Die Ereignisse rund um Bleiburg werden mit dem Exodus des »auserwählten Volkes«, mit dem Opfer Jesu für die Sünden der Menschheit, mit den Märschen in der Schlussphase des NS-Regimes und schließlich mit Konzentrationslagern und dem Holocaust selbst gleichgesetzt. Das »kroatische Volk« wird mit den Juden identifiziert und Bleiburg als kollektives jesusgleiches Opfer für die kroatische Wiederauferstehung in Form der Eigenstaatlichkeit gedeutet.

Das Auffälligste an der Bleiburg-Berichterstattung in Vjesnik ist die Geschlossenheit des Diskurses dieser in den 1990er Jahren gelinde gesagt defekten Demokratie mit eingeschränkter Medienfreiheit, die absolute Dominanz der Deutung der Bleiburg-Opfer als »kroatische Armee« und »kroatisches Volk«. Aus diesem Grund ist die einzige Erwähnung einer Kontroverse über diese Frage hier von besonderem Interesse. Sie findet sich in einem Bericht über die Sitzung des Parlamentsausschusses für das Gedenken an die Bleiburg-Opfer und Opfer des Kreuzwegs 1996. Bereits im Untertitel wird die »scharfe Polemik nach dem Auftritt von Slavko Goldstein«, einem jüdischen Partisanen, dem Begründer der ersten demokratischen Partei in Kroatien und langjährigem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde angesprochen. Den Beschlüssen des Ausschusses ging »eine heftige Debatte voraus, die ein Mitglied des Ausschusses, Slavko Goldstein, mit der Behauptung hervorgerufen hat, dass es unangebracht sei, für die in Bleiburg Umgekommenen den Begriff kroatische Armee zu verwenden. Vor allem stünde eindeutig, so Goldstein, in der Präambel der Verfassung, dass das heutige Kroatien auf dem Antifaschistischen Landesrat der Volksbefreiung Kroatiens (ZAVNOH) begründet sei. Der zweite Grund sei utilitaristisch: Die Charta der Vereinten Nationen sieht den Kampf gegen den Nationalsozialismus bis zu seiner Zerstörung vor. Wenn wir diese Armee zur kroatischen erklären, lassen wir die Möglichkeit zu, dass wir die Nachfolger des faschistischen Staates sind. Der dritte Grund ist ein moralischer, denn die Opfer von Bleiburg waren gemischter Zusammensetzung, darunter waren auch drei Elite-Einheiten der Ustaša. [Parlaments-]Präsident Pavletić sprach sich gegen Debatten mit historischem und politischem Vorzeichen aus und betonte, dass es ein Verbrechen sei, Menschen ohne ein Gericht und ein Urteil zu töten, mögen sie auch Verbrecher sein. … Die Präsidentin der Kroatischen Gesellschaft politischer Gefangener, Kaja Perković, stellte wiederum fest, dass die kroatische Armee nicht verbrecherisch gewesen sei, sie jedoch nicht wisse, was jene (die Partisanen, Anm. des Autors) waren, die sie empfangen haben. ›Sie haben uns ausgeraubt und getötet. Sie wollten mich ohne ein Gerichtsurteil töten, obwohl sie nicht wussten, wer ich war‹, betonte Kaja Perković und rief die Anwesenden dazu auf, sich mit politischen Debatten zurückzuhalten. … Goldsteins Auftritt kommentierte auch Anto Baković: ›Sie haben in meinen Augen das Parlament geschändet! Was haben Sie mit kroatischen Opfern zu tun?‹«[39]
Dieser Artikel zeigt, dass in Vjesnik antisemitische Anfeindungen zitierfähig waren. Der katholische Priester und HDZ-Abgeordnete, Pater Baković, unterscheidet zwischen dem Juden Goldstein und »kroatischen Opfern«, mit denen dieser nichts zu tun habe. Zweitens zeigt der Artikel, dass Parlamentspräsident Pavletić zumindest auf direkte Nachfrage zugesteht, dass möglicherweise auch Verbrecher unter den Opfern gewesen seien, womit er sich von seinem Vorgänger Nikolić unterscheidet, der die Charakterisierung als unschuldige Soldaten, Frauen, Kinder und Alte etablierte. Schließlich sieht man hier vor allem, wie mit den wenigen KritikerInnen des dominanten Bleiburg-Diskurses in den 1990er Jahren umgegangen wurde: Nicht nur Perković verfolgt eine Delegitimierungsstrategie gegenüber dem angeblich politisierenden Kritiker und reagiert mit Gegenvorwürfen in Richtung der Partisanen. Auch der Parlamentspräsident disqualifiziert die Kritik als »Debatte mit historischem und politischem Vorzeichen«. Unter politischen und ideologischen Vorzeichen debattieren in der Tuđman-Ära also immer nur die Anderen, die Nicht-Kroaten.

Fazit und Ausblick

Die enge Verflechtung des Bleiburg-Diskurses mit der Unabhängigkeit Kroatiens liegt auf der Hand. Nicht nur wurde erst seit 1990 in Kroatien über die Gedenkveranstaltung berichtet und kehren viele EmigrantInnen in das »befreite« Kroatien zurück. Auch wird »das Opfer« von Bleiburg als ein Meilenstein zur kroatischen Unabhängigkeit definiert: »An diesem heiligen Ort inspiriert uns die selbstlose Opferung der kroatischen Jugend zur selbstlosen Liebe gegenüber der kroatischen Heimat. … Die Opfer sind kein toter verstreuter Körper, sie sind lebendig, folgen uns und freuen sich, dass jenes Kroatien, für das sie gekämpft haben, auferstanden ist«[40], so Pater Duka. In Vjesnik herrschte, repräsentativ für den dominanten Diskurs in den 1990er Jahren, der positive Bezug auf die NDH, die als kroatischer, nicht-faschistischer Staat gedeutet wird, vor. Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges wurde durch die »staatsschaffende« Brille soweit verzerrt, dass Bleiburg als Verbrechen am »kroatischen Volkskörper« gedeutet wurde, während als Täter »serbo-kommunistische Bluthunde« ausgemacht wurden – die Beteiligung kroatischer PartisanInnen wurde ausgeblendet. Bleiburg war in der Tuđman-Ära der wichtigste nationale Gedächtnisort, auf dem – von internationalen Normen ungestört – der Fokus der Vergangenheitspolitik lag. Im Gegensatz dazu erwies sich Jasenovac trotz der außenpolitischen Isolation Kroatiens als ein transnationaler Gedächtnisort, die Umbettung der Gebeine der von den PartisanInnen ohne Gerichtsverfahren getöteten gelang nicht.

Nach Tuđmans Tod 1999 und der Abwahl der HDZ 2000 gab es zwar in Bezug auf Jasenovac einen gänzlichen Bruch mit der revisionistischen Vergangenheitspolitik der Tuđman-Ära, das nationale Gedenken in Bleiburg wurde hingegen zunächst unverändert fortgesetzt, wenn etwa VertreterInnen der Kroatischen Sozialliberalen Partei (HSLS) dort vom »kroatischen Holocaust« sprachen. Internationalen Vorbildern folgend versuchte sich 2002 ein Vertreter der Nachfolgepartei des Bundes der Kommunisten Kroatiens, Zdravko Tomac, von der regierenden SDP, trotz der alljährlichen Ustaša-Symbolik in Bleiburg zu entschuldigen, wurde jedoch ausgepfiffen. Erfolgreicher verlief der Besuch des sozialdemokratischen Premiers Ivica Račan, der sich zwei Tage später abseits des revisionistischen Spektakels vor den ohne Gerichtsverfahren ermordeten Opfern verbeugte, gleichzeitig aber auch betonte, dass Kroatien auf den Grundfesten des Antifaschismus errichtet sei. Die Phase ist geprägt vom Versuch, für Jasenovac die gleiche Aufmerksamkeit wie für Bleiburg einzufordern. Ein altes, als Problem gedeutetes Thema, der Revisionismus in Bezug auf die Ustaša-Verbrechen, wird nicht mehr nur von marginalisierten AkteurInnen, sondern auch vom Präsidenten thematisiert und mit der Forderung nach akkuraten Schulbüchern verknüpft. Als diskursive Wende kann Präsident Stipe Mesićs Verurteilung aller im Namen des kroatischen Staates begangenen Verbrechen 2003 bezeichnet werden.

Die durch Ivo Sanader reformierte HDZ setzte nach ihrem Wahlsieg 2003 gegenüber ihrer eigenen Klientel die Entfernung von Ustaša-Denkmälern und die Umbenennung von Straßen um, die nach dem Ustaša-Minister Mile Budak benannt waren. Sanader sprach in Jasenovac nicht mehr von Bleiburg und verurteilte wie Mesić die Ustaša-Verbrechen. Er sprach jedoch mit einer solchen Konstanz in Jasenovac über die Verurteilung des »schwarzen und des roten Totalitarismus«, dass dies wie eine den europäischen Normen angepasste Version der Relativierung der Ustaša-Verbrechen durch den Verweis auf die sozialistischen erscheinen muss. Ferner verknüpfte er die Lehren aus Jasenovac regelmäßig mit dem »Heimatländischen Krieg« der 1990er und ersetzte somit den »alten« nationalen Opfermythos über die »kroatische Tragödie« Bleiburg durch den neuen, demzufolge »die Kroaten« in den 1990ern Opfer eines »neuen Faschismus« geworden wären. Der nationale Gedächtnisort Bleiburg verliert also im Verhältnis zur transnationalen Verurteilung des Totalitarismus zusehends an Bedeutung und der nationale Opfermythos über das »kroatische Leiden« wird im Sinne der »Universalisierung des Holocaust« transnational gewendet, etwa in Sanaders Rede vom »serbischen Faschismus« in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.

Nach dem Wahlsieg der sozialdemokratisch angeführten Koalition 2011 wurde die Schirmherrschaft des Parlaments für die Gedenkveranstaltung in Bleiburg aufgekündigt. Mit dem Wahlsieg der HDZ-Präsidentschaftskandidatin Kolinda Grabar-Kitarović 2015 und vor allem der von der HDZ angeführten Koalition bei den Parlamentswahlen im selben Jahr - sowie bei der Wiederwahl 2016 – lässt sich jedoch wieder ein Revival des Bleiburg-Gedenkens beobachten. Auch wenn die Bedeutung, die diesem mythischen Ort zugemessen wird, stark von der jeweiligen Regierung abhängt, so bleibt er scheinbar mit der kroatischen nationalen Identität untrennbar verbunden. Die Begriffe »Kreuzweg« und »Todesmärsche« sind bis heute in Kroatien so weit verbreitet, dass sie sogar in kritischen Texten über die Gedenkkultur in Bleiburg ohne Anführungszeichen verwendet werden.[41]

Quellen

[1] Der Beitrag greift zurück auf: Radonić, Ljiljana, Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik in Kroatien zwischen Revisionismus und europäischen Standards, Frankfurt 2010. Die Übersetzungen stammen von der Autorin.

[2] Vgl. Perić, Ivo, Povijest za VIII. razred osnovne škole, Zagreb 1992, S. 85ff.

[3] Zit. nach Grahek, Martina, »Bleiburg i Križni put u hrvatskim udžbenicima povijesti«, in: Fleck, Hans-Georg/Graovac, Igor (Hg.), Dijalog povjesničara – istoričara 9, Zagreb 2005, S. 641–663, hier S. 643f.

[4] Vgl. Čulić, Marinko, Tuđman: anatomija neprosvijećenog apsolutizma, Split 1999, S. 108.

[5] Vjesnik, 16.1.1996.

[6] Vgl. Feral Tribune, 6.5.1996; 20.5.1996; 8.12.1997.

[7] Vgl. Feral Tribune, 6.5.1996; 8.12.1997.

[8] Vjesnik, 6.4.1995.

[9] Vjesnik, 28.4.1995.

[10] Vjesnik, 29.5.1997.

[11] Vjesnik, 7.5.1999.

[12] Novi list, 28.5.1996.

[13] Novi list, 16.5.1996.

[14] Vjesnik, 14.5.1990.

[15] Vjesnik, 23.5.1991.

[16] Vjesnik, 12.5.1992.

[17] Vjesnik, 15.5.1995.

[18] Vjesnik, 23.5.1991.

[19] Vjesnik, 5.5.1993.

[20] Vjesnik, 14.5.1990.

[21] Vjesnik, 4.4.1995.

[22] Novi List, 12.5.1997.

[23] Vjesnik, 18.5.1998.

[24] Vjesnik, 12.5.1992.

[25] Vjesnik, 5.5.1993.

[26] Vjesnik, 23.5.1991.

[27] Vjesnik, 4.4.1995.

[28] Vjesnik, 13.5.1996.

[29] Vjesnik, 16.5.95; 13.5.1996.

[30] Vjesnik, 23.5.1991.

[31] Vjesnik, 16.5.1995.

[32] Vjesnik, 11.5.1995.

[33] Vjesnik, 13.5.1995.

[34] Vjesnik, V 12.5.1992.

[35] Vjesnik, 16.5.1995.

[36] Novi list, 16.5.1995.

[37] Vjesnik, 12.5.1996.

[38] Vjesnik, 17.5.1998.

[39] Vjesnik, 7.5.1996.

[40] Novi list, 10.5.1993.

[41] Vgl. Pavlaković, Vjeran, »Komemorativna kultura Bleiburga, 1990–2009.«, in: Bosto, Sulejman/Cipek, Tihomir (Hg.): Kultura sjećanja: 1945. Povijesni lomovi i svladavanje prošlosti, Zagreb 2009, S. 167–193, hier S. 174.