Die Rattenlinie – Flucht der Kriegsverbrecher_innen mit Hilfe der Kirche

    Der nachfolgende Text möchte sich mit der als „Rattenlinie“ bekannt gewordenen Fluchtroute von Nationalsozialist_innen und Faschist_innen auseinandersetzen. Diese wurde mit Vertretern der katholischen Kirche organisiert, um Kriegsverbrecher_innen zur Flucht zu helfen. Auch ranghohe Ustaša konnten sich so im Exil jeglicher Verfolgung entziehen.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten sich viele Nationalsozialist_innen sowie deren Kollaborateur_innen abzusetzen, um vor den Konsequenzen ihrer Taten zu fliehen und nicht von den Alliierten gefangen genommen zu werden. Nördliche Häfen wie Rotterdam und Hamburg wurden stark bewacht um fliehende Kriegsverbrecher_innen abzufangen. So etablierten sich Fluchtrouten über italienische Häfen, wie Genua oder Triest. Der Weg dorthin führte für Nationalsozialist_innen häufig über Südtirol, der ersten deutschsprachigen Region ohne Alliierte. Dort konnten sie sich treffen und vernetzen. Beim Ausstellen von (falschen) Reisedokumenten half das Internationale Rote Kreuz, wobei zum Nachweis der Identität oft eine Bescheinigung von Vertretern der Kirche ausreichte. Die katholische Kirche (im Vatikan und darüber hinaus) stützte die Rattenlinie zum Teil aus einer gefühlten Verbundenheit mit den Fliehenden aufgrund eines gemeinsamen Antikommunismus, zum Teil wegen weitergehender Verstrickungen, wie bspw. in den Verbrechen des NDH-Staates (siehe den Text zur Rolle der katholischen Kirche auf diesem Blog). Auch amerikanische Geheimdienste, allen voran der CIC, waren in das Netzwerk der Fluchtrouten involviert, schließlich stand der Kalte Krieg an und die USA brauchten dafür ausgebildete Leute. So nutzten sie die Rattenlinie der katholischen Kirche und des Internationalen Roten Kreuzes um Nazis in die USA zu bekommen, ohne dass sie sich vor Gericht verantworten mussten.

    Monsignore Montini neben Papst Pius XII.

    Die päpstliche Hilfskommission

    Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Millionen Menschen aus unterschiedlichen Gründen auf der Flucht. Aufgrund dessen war humanitäre Hilfe notwendig. Die katholische Kirche nahm sich zum Teil dieser an. Bereits im April 1944 wurde die PCA, die „Pontificia Commissione di Assistenza“, die päpstliche Hilfskommission, mit der Flüchtlings- und Gefangenenbetreuung betraut. Giovanni Montini, der spätere Papst Paul VI., und Ferdinando Baldelli standen ihr vor. Auch wenn die PCA sich eben als humanitäre Institution verstand, so half sie allen, die katholisch waren und vor dem Kommunismus fliehen wollten – unabhängig ihrer eigenen Geschichte. (vgl. Steinacher 2011, S.102-103) Antikommunismus bildete dabei die moralische Rechtfertigung, um alle Geflüchteten aus Osteuropa zu unterstützen. Es ging dabei auch um die Frage der Sicherstellung der Machtstellung der katholischen Kirche in der Weltpolitik. (vgl. Steinacher, 2011 S.106) Im Kommunismus wurde eine größere Bedrohung von Seiten der Kirche für ihren Fortbestand gesehen, als es im Nationalsozialismus oder Faschismus der Fall war. (vgl. Giefer/Giefer 1995, S.99)

    Die PCA war damit beauftragt (katholische) Flüchtlinge und Kriegsgefangene zu betreuen. Am Ende des Kriegs wurde diese Aufgabe insofern dezentralisiert, als dass nationale Unterkommissionen eingerichtet wurden. Damit sollte es möglich werden, Informationen über vermisste Personen zu sammeln und Kontakt mit Verwandten herstellen zu können. Zusätzlich stellten sie aber Zertifikate der Entnazifierung aus, sowie Dokumente der Anerkennung einer Identität, um Reisepapiere zu erlangen und somit emigrieren zu können. (vgl. Steinacher 2011, S.110-111) Über die Bestätigung des Namens und Geburtsdatums von kirchlicher Seite, welche oft ohne viel Nachfragen unterzeichnet wurde, konnten sich unterschiedliche Personen Reisepapiere des Internationalen Roten Kreuzes holen und damit ausreisen. (vgl. Giefer/Giefer 1995, S.102; Steinacher 2011, S.112)

    Einer der wichtigsten Protagonisten der Rattenlinie war der Grazer Theologe, Rektor des deutschen Priesterkollegs Santa Maria dell’Anima und Titularbischof von Aela, Alois Hudal. 1937 schrieb er bereits ein Buch „Die Grundlagen des Nationalsozialismus“, in welchem er Christentum und Nationalsozialismus gedanklich in Einklang brachte und verband. Anfänglich organisierte er für flüchtende Nazis Ausweiskarten, mit welchen sie bis 1946 ausreisen konnten, da sie sowohl von den Alliierten wie auch von den italienischen Behörden akzeptiert wurden. Danach bezeugten Kirchenvertreter die Identität, damit das Internationale Rote Kreuz Pässe ausstellen konnte. Auch für erfolgreich ausgestellte Visen half die katholische Kirche. (vgl. Klee 1991, S.31-33)

    Das „kroatische Pendant“ zu Hudal war Pater Krunoslav Draganović, welcher am Ende des Krieges Sekretär der kroatischen Nationalkirche in Rom war. Der NDH-Staat hatte, wie bereits in einem anderen Text auf diesem Blog beschrieben, starke Verbindungen zur katholischen Kirche. Der Franziskaner-Priester Krunoslav Draganović, Protegé von Ivan Šarić, Erzbischof von Vrhbosna (Sarajevo), wurde bereits kurz nach der Ausrufung des NDH-Staates 1941 mit einer führenden Rolle bei der Koordinierung der Deportationen, vor allem von Serb_innen, betraut. 1943 ging er dann nach Rom in die kroatische Nationalkirche San Girolamo degli Illirici auf der Via Tomacelli, deren Aufgabe unter Anderem die Repräsentation der kroatischen Kirche im Vatikan und gegenüber dem Papst war. (vgl. Steinacher 2011, S. 128-129) Er stand auch dem kroatischen Unterkomitee des PCA vor und stellte recht freimütig Identitätsdokumente aus um zu bestätigen, dass die Personen „jugoslawischer Herkunft“ waren und ausreisen müssten. (vgl. Steinacher 2011, S. 114) Sogar Papst Pius XII. und sein damaliger enger Mitarbeiter Giovanni Montini, verantwortlich für „ordentliche Angelegenheiten“ im Vatikan und später Papst Paul VI., wurden miteinbezogen und setzten sich für jugoslawische Geflüchtete ein, ohne dabei kroatische Faschist_innen explizit auszuschließen. (vgl. Steinacher 2011, S.12-13)

    Büste von Vilim Cecelja an der Gedenkstätte am Loibacher Feld/Libuško Polje

    Der Weg

    Am Ende des Zweiten Weltkrieges flüchteten viele führende Ustaša vor der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee nach Österreich und Italien. Die Rattenlinie begann in Österreich beim Priester Vilim Cecelja, dem eine eigene Büste an der Gedenkstätte am Loibacher Feld/Libuško Polje gewidmet ist. Bis 1944, bevor er nach Salzburg ging, arbeitete Cecelja als Militärkaplan bei den Ustaša und galt als enger Vetrauter von Pavelić. Am Ende des Krieges fanden viele Kriegsverbrecher und Mitglieder der (Waffen-)SS Unterschlupf in Salzburg, wo sie darüber hinaus neue Dokumente, Reisepapiere, finanzielle Hilfe und vorbereitete Routen über verschiedenste Klöster bis nach Genua erhielten. Dort vor Ort arrangierte der Priester Karlo Petranović, selbst Ustaša, die Schiffsreise nach Südamerika. (vgl. Steinacher 2011, S.135-136) Die Flüchtenden fanden ihre Unterkunft in den vielen Klöstern entlang ihrer Route, da dort das Risiko entdeckt zu werden am kleinsten war. Daher wurde und wird die Rattenlinie auch als „Klosterroute“ oder „Vatikan-Linie“ genannt. (vgl. Giefer und Giefer 1995, S.93)

    1946 führte das US-Militär 475 führende Ustaša, welche in Jugoslawien als Kriegsverbrecher gesucht wurden, als in Italien lebend an. Viele davon versteckten sich in Kirchen und Klöstern. Allein in San Girolamo (wurde bereits erwähnt) sollen es über 30 führende Ustaša-Funktionäre gewesen sein. Nach der Truman-Doktrin im März 1947 und der Gründung des CIA im Juli 1947 benötigten die USA Expertise in Osteuropa um für den Kalten Krieg gut ausgestattet zu sein. Dafür griffen sie auch auf (ehemalige) Ustaša zurück. Infolge zählte auch Ante Pavelić (ab Juli 1947) nicht mehr als von den USA gesuchter Kriegsverbrecher. (vgl. Steinacher 2011, S. 129-132) Bis 1951 verhalfen Geistliche und Klöster, allen voran Draganović, ca. 30.000 Kroat_innen zu emigrieren, 20.000 davon nach Übersee – beliebtestes Ziel dabei war Argentinien, da es dort bereits eine große exilkroatische Community gab. (vgl. Steinacher 2011, S.134)

    Rotkreuz-Ausweis, den Eichmann für die Einreise nach Argentinien verwendete

    Ante Pavelić 1942

    Foto von Pavelić aus seinem gefälschten Pass, ausgestellt auf den Namen Pablo Aranjos

    Bekannte "Nutzer"

    Zu den prominentesten Nutzern der Rattenlinie zählten unter anderem Adolf Eichmann, SS-Obersturmbannführer und Leiter des für die Organisation der Vertreibung und Deportation der Juden zuständigen Referats des Reichssicherheitshauptamtes, Hans-Ulrich Rudel, deutscher Schlachtflieger, Offizier und höchstdekorierter Soldat der Wehrmacht, Josef Mengele, Lagerarzt im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, Alois Brunner, SS-Hauptsturmführer und einer der wichtigsten Mitarbeiter Eichmanns bei der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, Franz Stangl, Verwaltungsleiter in der NS-Tötungsanstalt Hartheim sowie Lagerkommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, Gustav Wagner, Stangls Vertreter, Friedrich Warzok, SS-Hauptsturmführer und Leiter des KZ Lemberg-Janowka, Walter Rauff, Verantwortlicher über die Vergasungswagen zur Ermordung von Jüdinnen und Juden, Klaus Barbie, Gestapo-Chef von Lyon bekannt als „Schlächter von Lyon“, Gerhard Bohne, SS-Hauptsturmführer und Leiter der Zentraldienststelle für die nationalsozialistischen Euthanasie-Morde. (vgl. Giefer/Giefer 1995, S.96-97; Klee 1991, S.25-26)

    Auch Ante Pavelić, der Poglavnik, also Führer des NDH-Staates, ist einer der bekanntesten Nutzer der Rattenlinie. Bereits vor Kriegsende, Anfang Mai 1945, floh er mit seiner Familie sowie vielen weiteren hochrangigen Ustaša aus Kroatien. Den Weg der vorzeitigen Flucht nahmen bspw. auch Ivan Šarić, Erzbischof von Vrhbosna (Sarajevo), Jozo Gavić, Bischof von Banja Luka oder Andrija Artuković, Innen- und teils Justizminister im NDH-Staat sowie maßgeblich an den Massenmorden der Ustaša beteiligt. Pavelić und Artuković fanden nach ihrer Flucht im Kloster Sankt Gilgen bei Salzburg Unterschlupf. Nach einer kurzzeitigen Festnahme durch die britischen Alliierten fand Artuković 1946 seinen Weg über die Schweiz und Irland in die USA. Pavelić wiederum ging als Priester verkleidet nach Rom, wo er unter den Namen Pater Gomez und Pater Benarez im Kloster lebte. Ende 1948 gelangte er als Pablo Aranyoz nach Argentinien – angeblich ausgestattet mit Gold und Edelsteinen aus seiner Zeit als Poglavnik. Nach dem Sturz Perons 1955 sowie einem Attentat auf ihn 1957 ging er nach Franco-Spanien in ein Franziskaner-Kloster in Madrid. Ende Dezember 1959 starb er im Deutschen Krankenhaus in Madrid. (vgl. Deschner 1982, S.243; 2012, S.188-189)

    Viele Kriegsverbrecher_innen konnten sowohl Strafen wie Racheaktionen damit entgehen, dass sie einfach flohen. Im Gewirr an Flucht und Migration nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten sie Kontakte, Wege und Möglichkeiten. Die Rattenlinie, welche über die katholische Kirche lief, stellte dabei eine recht effektive Möglichkeit dar. So kamen viele mit ihren Verbrechen davon.

    Quellen

    Deschner, Karlheinz (1982) „Ein Jahrhundert Heilsgeschichte. Die Politik der Päpste im Zeitalter der Weltkriege. Von Pius XII. 1939 bis zu Johannes Paul I. 1978“, Kiepenheuer & Witsch.

    Deschner, Karlheinz (2012) „Mit Gott und den Faschisten. Der Vatikan im Bunde mit Mussolini, Franco, Hitler und Pavelić“, Ahriman-Verlag.

    Giefer, Rena; Giefer, Thomas (1995) „Die Rattenlinie. Fluchtwege der Nazis. Eine Dokumentation“, Beltz Athenäum.

    Klee, Ernst (1991) „Persilscheine und falsche Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen“, Fischer Taschenbuch Verlag.

    Steinacher, Gerald (2011) „Nazis on the Run. How Hitler’s Henchmen Fled Justice”, Oxford University Press.